Wie Du Beziehungen in Schule und Alltag gelingend gestaltest

Immer wieder wurde und werde ich von Lehrer*innen und Eltern gefragt, wie sie denn Beziehungen im Schul- und Erziehungsalltag LEBEN können, welche Instrumente sie ganz konkret einsetzen können? Und meine Antwort lautet stets: „ICH kann IHNEN nicht sagen, wie SIE Beziehung konkret leben können. Ich kann Ihnen sagen, wie ICH Beziehung bis jetzt gelebt habe, welche Instrumente ICH bis jetzt ausprobiert habe. Auch ich bin noch immer am Erfahrungen sammeln.“

Das klingt für manche Menschen am Anfang etwas befremdlich, da sie ja zu mir kommen, um sich „Rat“ zu holen. Doch um Beziehung leben zu können, gibt es keine Rezepte. Beziehung zu leben ist eine HALTUNG, die ich im Kontakt, in der Nähe zu anderen einnehme. Sie ist ein persönlicher Entwicklungsprozess. Sie braucht meine Authentizität und daher gibt es kein „Rezept“, keine „10 Tipps“. Und das ist in einer Gesellschaft, in der es immer noch vermehrt üblich ist, anderen zu sagen, was sie zu tun haben, oft verwirrend.

Was bedeuten Beziehungen also für mich und wie lebe ich sie derzeit konkret?

Beziehung leben bedeutet für mich, dass ich

  • mich für mein Gegenüber aus tiefstem Herzen interessiere,
  • neugierig bin zu erfahren, was der/die andere denkt und fühlt,
  • wertfrei, offen und interessiert zuhöre,
  • nicht Recht haben will, sondern,
  • dass ich bereit bin, meine Meinung zu ändern, wenn ich erkenne, dass ich im Unrecht bin bzw. dass wir uns „zweinigen“. 

Zweinigung – das ist ein von Vera Birkenbihl erfundener Begriff, der nichts anderes bedeutet, als dass wir uns einig sind, dass wir uns (in diesem Thema) nicht einig sind.

Hier ein kurzes Video dazu:

Diesen Begriff der „Zweinigung“ finde ich insofern hilfreich, da er mich sehr schnell daran erinnert, dass wir zumindest in der westlichen Welt in einer freien Welt leben, in der die Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, welches auch in den Menschenrechten verankert ist. Und doch ist es im täglichen Zusammenleben mit unseren Partner*innen, Kindern, Schüler*innen, … eine Herausforderung, genau diese Meinungsfreiheit zu leben. Wir wollen Recht haben. Dabei stehen sich „Recht haben wollen“ und eine „Beziehung führen“ im Weg. Denn immer dann, wenn ich Recht habe, hat der andere Unrecht. Wenn meines richtig ist, dann erscheint das andere falsch. Recht haben wollen erzeugt Verlierer. Mit Hilfe der „Zweinigung“ kann ich ein Streitgespräch, sei es mit meinen Kindern, meinem Partner, … friedlich beenden, und wir einigen uns, dass wir in diesem Thema unterschiedlicher Meinung sind.

Hinter Recht haben zu wollen, steckt das Bedürfnis gesehen zu werden

Woher kommt dieser Wunsch in uns, „Recht haben“ zu wollen? Ein essentielles Bedürfnis von Menschen ist es, „gesehen“ zu werden. Ich möchte tief in mir das Gefühl haben „richtig“ zu sein. Und diese Bestätigung, die ich dafür brauche, suchen Menschen häufig auch in eigentlich sinnlosen Diskussionen um Kleinigkeiten, die für einen Außenstehenden lächerlich erscheinen mögen.

Wer kennt nicht die immer wiederkehrenden Konflikte zwischen Paaren, in denen oft stundenlang darüber diskutiert wird, wer was wann gesagt hat. Die „Wahrheit“ ist dabei sehr selten zu ergründen (außer es gab eine Tonbandaufzeichnung), denn wenn ich etwas nicht gehört habe, dann kann mich mein Gegenüber nicht davon überzeugen, dass ich es doch gehört haben muss.

Die Wahrheit kennst du nicht!

In diesen Diskussionen hilft mir oft auch das Wissen, dass jeder von uns nur einen Bruchteil der Realität bewusst wahrnimmt. Laut Neurowissenschaft ist das weniger als EIN PROZENT. Wenn ich mir diesen winzigen Prozentsatz vor Augen führe, dann fällt es mir wesentlich leichter einzulenken und die Diskussion mit einer „Zweinigung“ zu beenden.
Dieses „Zweinigen“ braucht zuerst ein Bewusstmachen und anschließend regelmäßige Übung. Das kann in unterschiedlichen Settings geübt werden, sei es am Familientisch, in einer Gruppenarbeit in der Schule in unterschiedlichsten Fächern, in Elterngesprächen, … .

Dialoge schaffen Vertrauen. Alle fühlen sich gesehen.

Ein weiteres wichtiges Tool in der Beziehungsarbeit ist für mich der Dialog: wir setzen uns an einen Tisch und es findet „nur“ ein Meinungsaustausch statt. Jede*r Teilnehmer*in darf sagen, was er/sie über ein bestimmtes Thema denkt. Es braucht keine Lösung und auch kein Übereinkommen gefunden zu werden. Es geht darum, gehört, wahrgenommen und gesehen zu werden. Durch dieses regelmäßige Üben, bekommen ALLE Teilnehmer immer wieder das Gefühl, dass SIE und IHRE Meinung auch richtig sind, sie fühlen sich gesehen und entwickeln ein Gefühl von „ich bin gut, wie ich bin“.

Wenn dieses Bedürfnis erfüllt ist, dann wird eine Lösungsfindung viel einfacher, weil nun (hoffentlich) ALLE an einer gemeinsamen Lösung interessiert sind, anstatt IHRE Meinung durchsetzen zu wollen. Durch diesen Prozess wird schließlich Co-Kreationmöglich, d.h. eine Lösung, die erst durch die Inputs ALLER entstehen konnte.

Klassenforum: Gutes Format für gelingende Beziehungen in Schulen

In der Schule bewährt sich das Instrument des „Klassenforums“, wo sich in entspannter Atmosphäre Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen in Kleingruppen an Tischen zusammensetzen und herausfinden, was denn jeder braucht, wie es jedem geht, … . Den möglichen genauen Ablauf eines solchen Forums werde ich euch in meinem nächsten Artikel vorstellen.

Vom Opfer zum Schöpfer: Gelingende Beziehungen machen stark

Wenn wir in derart gelingenden Beziehungen leben, dann werden einige grundlegende menschliche Bedürfnisse erfüllt: Neben dem oben erwähnten „ich bin gut wie ich bin“ und dem „Gesehen werden“, können sich in diesem Umfeld auch die essentiellen Kompetenzen des Selbstgefühls und der Selbstwirksamkeit entwickeln, die eine wesentliche Rolle für das persönliche Leben eines jeden einzelnen spielen. Sie lassen uns wachsen und führen uns aus der Ohnmacht eines „Opfers“ zur Kraft einer „Schöpferin“.

Ich wünsche euch einen wundervollen Sonntag und freue mich wie immer auf eure Anregungen, Kommentare und Fragen.
Alles Liebe.
Eure Ines